Neue Zürcher Zeitung vom 01.09.2015, Seite 15:
Höhere Maturitätsquote ist unpopulär
Neue Studie zeigt klare Ergebnisse auch zur Frage von einheitlichen Abschlussprüfungen
Die Schweiz kennt eine im internationalen Vergleich tiefe gymnasiale Maturitätsquote. Wegen des Fachkräftemangels wird dies gern kritisiert. Die Bevölkerung ist aber gegen eine höhere Quote.
Michael Schoenenberger
Ins Gymnasium oder nicht? Alljährlich beschäftigt diese Frage Eltern und ihre Kinder. Trotz einer bisher ungekannten Durchlässigkeit des Bildungssystems – Bildungswege bis an die Universität sind heute auch für Absolventen einer Berufslehre möglich – elektrisiert die vermeintliche Weichenstellung in der sechsten Primarklasse Eltern wie Schüler, als ginge es ums nackte Überleben. Elektrisiert sind, wenn es um die «richtige» Maturitätsquote geht, auch Bildungspolitiker und involvierte Kreise – Verbände, Wirtschaft, Gewerbe, Lehrer oder Dozenten.
Argumente auf beiden Seiten
Eine Fülle von Meinungen ist garantiert. Vertreter der dualen Berufsbildung sehen bei steigender Quote der gymnasialen Maturität die Berufslehre in Gefahr. Gewerbe und neuerdings die SVP warnen vor arbeitslosen Akademikern und einer Akademisierung der Berufswelt generell. Von den meisten wird auf Nachbarländer wie Italien oder Frankreich verwiesen, die eine hohe Maturitätsquote aufweisen – und, betrüblich genug, auch eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Erziehungswissenschafter und Gymnasiallehrer befürchten, dass die Qualität an Gymnasien durch eine Mengenausweitung sinken könnte.
Befürworter einer höheren Maturitätsquote argumentieren, so sie nicht aus rein ideologischen Gründen den Zugang möglichst aller zur Maturität fordern, mit der Beschäftigungsstruktur: So ist in den letzten 25 Jahren die Nachfrage nach gut und bestens qualifizierten Personen stark gestiegen. Darauf müsse die Schweizer Bildungspolitik reagieren, indem mehr junge Schweizer an einen Tertiär-Abschluss herangeführt werden. Die Debatte endet also beim vielzitierten Fachkräftemangel und bei der starken Zuwanderung von gut qualifizierten Personen während der letzten Jahre.
Was denkt die Bevölkerung?
Der Bildungsökonom Stefan Wolter hat eine grossangelegte Studie verfasst, in welcher er bei rund 6000 Schweizerinnen und Schweizern detailliert erfragt hat, was sie über diverse «heisse Eisen» der Bildungspolitik denken. Die Ergebnisse hinsichtlich Maturitätsquote, Akademikerquote und Qualität der Matura lassen aufhorchen.
Wolter, der im Auftrag von Bund und Kantonen das Bildungsmonitoring verantwortet und alle vier Jahre den Bildungsbericht verfasst, hat hierzu mit den Universitäten München und Harvard kooperiert. Die Forscher stellten den Befragten jeweils eine Basisfrage, zum Beispiel: «Was denken Sie über die Anzahl der Schulabsolventen, die in Ihrem Kanton eine gymnasiale Maturität ablegen?» Sie bildeten dann unter den Befragten mehrere Gruppen und liessen diesen Gruppen zusätzliche Informationen zukommen, etwa über die jeweilige Höhe der Maturitätsquoten. Dann wurde eruiert, ob sich die Antworten aufgrund der gegebenen Information veränderten. Bereits die Basisfrage liefert teilweise überraschende Ergebnisse.
Maturitätsquote. 54,3 Prozent sind der Ansicht, dass zu viele junge Menschen eine gymnasiale Matura ablegen. 40 Prozent halten die Quote in ihrem Kanton für gerade richtig. Nur gerade 6 Prozent allerdings meinen, es seien zu wenige. Werden die Befragten darüber informiert, wie hoch die tatsächliche Quote ist, sagen noch 44,8 Prozent, die Quote sei zu hoch. Und 44,9 Prozent meinen, sie sei gerade richtig. Aber immer noch sind es nur gut 10 Prozent, die sich mehr Maturanden wünschen.
Interessant ist, dass auch Akademiker überwiegend der Ansicht sind, es gebe zu viele Gymnasiasten. Bundesrat Johann Schneider-Ammann hatte 2012 in einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» gesagt, er wünsche sich lieber etwas weniger, dafür bessere Maturanden. Durch die Westschweiz, die höhere Maturitätsquoten aufweist als die Deutschschweiz, ging ein Sturm der Entrüstung. Nun zeigt sich: Auch in der Romandie findet eine knappe Mehrheit in der Basisbefragung, dass es zu viele Maturanden gibt.
Akademikerquote. 48 Prozent der Befragten halten die Akademikerquote für zu hoch. Für 46,5 Prozent ist sie gerade richtig. Nur gerade 5,5 Prozent geben zur Antwort, es seien zu wenige, die an einer Universität studieren. Wird die Zusatzinformation gegeben, dass in zahlreichen Ländern mit einer hohen Akademikerquote ein grosser Teil der Absolventen keinen adäquaten Job findet, sagen sogar fast 57 Prozent, die Akademikerquote in der Schweiz sei zu hoch. Interessant ist, dass nur 8,3 Prozent der Akademiker sich eine höhere Akademikerquote wünschen.
Zu erwarten war, dass die Antworten je nach politischer Einstellung variieren: Deutlich mehr Befragte aus dem rechten Lager finden, die Quote sei zu hoch; immerhin geben auch 44,7 Prozent der Linkswähler zu Protokoll, die Quote sei zu hoch. Nur gerade 10 Prozent der Linkswähler sagen, die Akademikerquote sei zu niedrig.
Qualität der Matura
Wolters Studie liefert ein weiteres überraschendes Ergebnis. Es betrifft die Einheitsmatura. So sprechen sich 86,6 Prozent der Befragten für schweizweit einheitliche Abschlussprüfungen an Gymnasien aus. Gemessen am föderalistischen Charakter, der die Mittelschulen prägt, konnte diese Deutlichkeit nicht erwartet werden. Auch in der Volksschule wird eine Vereinheitlichung von Prüfungen überwiegend befürwortet. In der Umfrage werden Absolventen einer pädagogischen Hochschule separat ausgewiesen. Auch die Volksschullehrer befürworten mehrheitlich einheitliche Abschlussprüfungen.
Von Relevanz ist das Ergebnis, weil bisher davon ausgegangen worden ist, dass die Einführung einer Zentralmatura politisch nicht den Hauch einer Chance hätte. Wolter ist überzeugt, dass mit einheitlichen Prüfungen – auch während des Gymnasiums – die Qualität der gymnasialen Mittelschulen und die Aussagekraft der Maturitätsnoten verbessert werden können. «Wir sollten wegen der Qualität in Richtung Zentralmatura gehen», sagt er. Der Bildungsforscher kritisiert, dass Schülerinnen und Schüler aus ihren Maturanoten nicht mehr ersehen können, ob sie an der Universität in bestimmten Fachrichtungen überhaupt bestehen können. «Wer das musische Profil wählt, kann selbst mit einer Note 6 in Mathematik weit vom Median entfernt sein. Für ein ETH-Studium würde es nicht reichen», sagt Wolter. Maturanden würden so mit einer komplett falschen Einschätzung ihrer Leistungsfähigkeit an die Universitäten geschickt. Überdies fördere das derzeitige System auch den Minimalismus. Wolter weist darauf hin, dass fast 50 Prozent der Maturanden im Kanton Bern eine ungenügende Note in Mathematik geschrieben haben.
Die Kantone arbeiten daran, den prüfungsfreien Zugang zur Universität mit gymnasialer Maturität langfristig sicherzustellen. Fünf Teilprojekte wurden dazu gestartet. So wurden zum Beispiel basale fachliche Kompetenzen in Mathematik und Erstsprache definiert. Es werden auch gemeinsame Prüfungen erarbeitet. In der Schweizerischen Mittelschulämterkonferenz sei die Zentralmatura aber kein Thema, sagt Marc Kummer. Der Chef des Zürcher Mittelschul- und Berufsbildungsamts sagt, der Kanton Zürich setze auf andere Instrumente der Qualitätssicherung, vor allem auf den Dialog mit den Hochschulen.
Quelle: http://zeitungsarchiv.nzz.ch/neue-zuercher-zeitung-vom-01-09-2015-seite-15.html?hint=76041996